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Kapitel 3: Die erste Phase meiner Trauer – das Aufblühen

Da stand ich nun, völlig alleine in einer fremden Welt, die eben noch vertraut war und die auch noch immer den Anschein des Vertrauten hatte. Irgendwie bekannt und dennoch völlig neu – allerdings nicht gut neu. Es fehlte die Hälfte in meinem Leben. Ich verspürte eine Leere, wie ich sie noch nie zuvor verspürt hatte. Es war, als hätte mir nicht nur jemand das Herz herausgerissen, sondern auch noch gleich ein paar andere Organe mit. Ich betrat mit unserem Hund Mona unsere Wohnung, aber auch Mona hatte erkannt, dass etwas völlig anders war. Normalerweise stürmte sie, sobald ich die Tür geöffnet hatte, sofort ins Wohnzimmer, wo mein Mann seine letzten Monate auf der Couch verbracht hatte, weil es ihm viel zu anstrengend war, aufzustehen und zum Beispiel ins Bett zu gehen. Doch an diesem Tag – nichts. Mona schlich langsam neben mir in die Wohnung hinein und machte keine Anstalten, ins Wohnzimmer zu gehen. Sie wusste haargenau, dass dort niemand mehr auf sie wartete und sich freute, sie zu sehen.

Und ich? Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, ich schwebte eigentlich mehr, als ich ging. Alles war wie auf rohen Eiern. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meine Mal-Sachen herauszuholen und das, was ich erlebt hatte, zu Papier zu bringen. Eine einmalige Sache für eine einmalige Situation. Der Blick in die Anderswelt, den ich durch Nikis Tod gewonnen hatte und der mir auch heute noch wie das größte Geschenk meines Lebens erscheint, hat mich überwältigt, aber dazu später.

Erst einmal hatte ich ganz normale Fragen. Wie sollte ich die nächsten Stunden verbringen? Welche Gefühle würden kommen? Und: Wie geht leben eigentlich?

Ich hatte in der langen Zeit der Pflege und des Daseins für meinen Mann völlig verlernt, mich um mich selbst zu kümmern und hatte vergessen, welche Bedürfnisse ich eigentlich hatte. Wer war ich? Was wollte ich von diesem Leben? Was brauchte ich eigentlich, um glücklich zu sein und ein erfülltes Leben zu führen? Wäre es möglich, ein erfülltes Leben ohne meinen Mann zu führen, mit dem mich ja nicht nur die Partnerschaft verband, sondern mit dem ich auch zusammen arbeitete und der mein kreativer Schaffenspartner war? Würde ich jemals ohne ihn arbeiten können? (Wir waren ein Künstlerpaar – beide Musiker – die sich mit ihrem musikalischen Projekt „My name is music“ auf vielen Ebenen, nicht nur in der Musik, auslebten, sich gegenseitig zu kreativen Höchstleistungen antrieben und gemeinsam eine kindliche Freude am Erschaffen von Dingen entwickeln konnten, die so rein und so schön war, dass sie eigentlich mit nichts vergleichbar ist.)

Nach ein paar Tagen Rückzug bei einer Freundin beschloss ich, einen vorsichtigen Neustart zu wagen und zum ersten Mal in unserer – nein meiner Wohnung zu übernachten. Es erschien mir wie eine Eroberung des Reviers, das mir vorher nur zur Hälfte gehörte.

(Exkurs: Vom Wir zum Ich

Ein interessantes Detail ist mir im Zusammenhang mit Trauer aufgefallen. Gerade in der Anfangszeit wird die „wir“-Form in der Sprache sehr häufig verwendet. Trauernde sprechen von „unserer Wohnung“, „unserem Auto“, von Gewohnheiten und Tätigkeiten, die „wir“ tun.
Im Laufe der Zeit ändert sich das. Plötzlich spricht man von „meiner Wohnung“, „meinem Auto“ und „meinen“ Gewohnheiten. Das Wort „ich“ ersetzt das Wort „wir“.
Da ich Sprache sehr genau beobachte, habe ich bemerkt, dass dieser Schritt hin vom „wir“ zum „ich“ mit einer Entwicklungsphase der Trauernden einhergeht. Meist erfolgt sie, wenn der Tod des geliebten Partners angenommen und akzeptiert wurde. Das heißt noch lange nicht, dass der Tod verdaut wurde oder die Trauer vorbei ist. Es bedeutet nur, dass man in der Realität angekommen ist, in der man nun alleine ist.)

Ich fing also an, alltägliche Dinge, die ihm gehörten, wie etwa Klamotten aus dem Kasten herauszulegen, um sie wegzugeben. Jedes einzelne Kleidungsstück hab ich angeschaut, angefasst und mich an viele schöne Dinge erinnert, wie z.B. seine Freude, als wir es gekauft hatten, ein schönes Konzert, an dem er ein bestimmtes Kleidungsstück getragen hatte oder bestimmte Shirts und Hosen, die er immer daheim zum Herumlümmeln angehabt hatte und in denen er sich sprichwörtlich pudelwohl gefühlt hatte. Dann packte ich alle Kleidungsstücke in große Säcke und fuhr sie zur Altkleidersammlung. Manche dieser Dinge schaffte ich, mit einer relativen Leichtigkeit abzugeben und für manche Dinge, wie etwa seinen Hochzeitsanzug und mein Hochzeitskleid zu den Altkleidern zu bringen, brauchte ich einige Wochen und war danach auch tagelang niedergeschlagen. Dennoch war mir bewusst, dass es mir in dieser Zeit relativ leicht gefallen war, diese Dinge zu erledigen. Ich hatte oft gehört von Witwen und Witwern, die die Kleider ihrer Verstorbenen auch Jahre nach dem Tod noch immer aufbewahren und manchmal sogar so im Kasten hängen lassen, als würde der geliebte Mensch jederzeit wieder kommen. Irgendetwas in mir hatte panische Angst, so zu werden wie sie. Es war ein unheimlicher Kampf mit mir selbst, ein bisschen ein symbolischer Kampf über Leben und Tod – und zwar meinen eigenen – und ich musste diesen Kampf unbedingt gewinnen. Also sprang ich über meinen eigenen Schatten und packte die Sachen an. Trauern ist individuell so verschieden! Jeder und jede trauert anders und ich muss zugeben, ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht die trauernde Witwe war, die man in Filmen so oft sieht oder die man als Bild in seinem Kopf hat, die ständig nur schluchzt und weint und getröstet werden muss. Nein. Ich fühlte mich in dieser ersten Zeit einfach nur leicht und frei und stark. Ich war die Eroberin meines Reviers! Ich drang in die Gebiete meines Mannes vor, rührte Gegenstände an, die ich Zeit seines Lebens nie berühren durfte, da ich ein wenig ungeschickt bin und er Angst hatte, ich würde etwas kaputt machen. Ich stöberte in seinen Unterlagen – auch um das Begräbnis vorzubereiten – und durchwühlte seine Dokumente. Ich fand alte Bilder und Briefe, auch von ehemaligen Geliebten und ließ mich auf Gefühle und Gedanken ein. Ich konnte viel Liebe spüren und das machte mich ruhig. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich dabei auch ein schlechtes Gewissen hatte, so, als würde ich im Tagebuch von jemandem lesen. Es fühlte sich verboten an, dennoch wusste ich, es musste sein.

Diese erste Phase war eine Phase des Annehmens, aber gleichzeitig nicht wahrhaben Wollens. Ich fühlte mich wie in einem surrealen Film, der irgendwie spannend und unwirklich war und den man sich ansehen will, auch wenn einen erschreckt zu wissen, dass man ein Protagonist ist und nie wieder aussteigen kann.

Immerhin einen Ausweg hatte ich aus diesem unwirklichen Alltag: Die Abende verbrachte ich damit, meine verbliebenen (und es waren nicht viele) Freunde zu treffen und auf Partys zu gehen und da mein Mann sich entschlossen hatte, diese Welt zu Beginn der Sommerferien zu verlassen und ich damals als Lehrerin tätig war, durchlebte ich zwei Monate lang eine wilde Zeit. Wie ein Teenager, der zum ersten Mal außer Hause ist, zog ich Nächte lang um die Häuser, ernährte mich von Alkohol und Zigaretten und lebte meine Freiheit. Natürlich wusste ich, dass ich vor meiner Angst und Trauer davonlaufe, aber die Kraft, mich dem Ganzen zu stellen, hätte ich nicht gehabt und in Wahrheit bin ich meinem Körper und meiner Psyche sehr dankbar, dass sie auch mal auf Verdrängungs-Modus schalten können, um Dinge häppchenweise zu verdauen und sich nicht völlig zu überfordern.

Von manchen unempathischen Wesen in meinem Umfeld bekam ich dann zu hören, ich dürfte die Trauer nicht unterdrücken oder verdrängen, aber hey – ich kann auch im Nachhinein sagen, dass es das Allerwichtigste ist, sich nicht auch noch selbst zu verlieren. Und wenn der Körper und die Psyche über die Zeit des Lebens Mechanismen entwickelt haben, die funktionieren, wäre es verdammt unsinnig, diese nicht zu benützen, wenn man in der schwierigsten Phase seines Lebens ist. Ich kann allen, die so eine Zeit durchleben müssen, nur sagen: Es ist ok, dass du nicht ok bist! Alles, was du tust und fühlst, ist richtig. Und lass dir bitte von niemandem etwas Anderes einreden! Und allen Angehörigen möchte ich sagen: Seid einfach da. Ganz ohne Ratschläge. Aber dazu möchte ich später in einem eigenen Kapitel sprechen, denn ich habe sehr oft erlebt, dass Angehörige völlig verunsichert sind, wie sie mit Trauernden umgehen sollen und ich würde gerne ein paar Tipps weitergeben, die mir und meinem Umfeld geholfen haben – Krücken quasi, die ihr benützen könnt, um gemeinsam wieder gehen zu lernen. Natürlich nur, wenn ihr das möchtet.

Aber weiter zu mir: Natürlich blieb diese Phase nicht lange so. Ich war ja wie auf einer Wolke und obwohl ich mich ganz wach fühlte, wusste ich, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Das hätte mein Körper nicht ausgehalten und meine Psyche erst recht nicht. Und während ich meine Abende damit verbrachte, von einer Party zur nächsten zu hüpfen und versuchte, so viel Versäumtes nachzuholen, wie möglich, wuchsen im Hintergrund die Probleme und die Schwere der Trauer langsam, aber unaufhaltsam heran, wie eine dunkle Wolkenwand vor einem Gewitter, während man noch in der Sonne tanzt.