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Kapitel 4: Der dunkle Herbst – die zweite Trauerphase

Es war klar, dass es kam, wie es kommen musste. Im Herbst begann meine ungeliebte Arbeit als Lehrerin wieder und als wäre das nicht schon schlimm genug, manifestierte sich die Schlaflosigkeit, die ich bereits im Sommer schon hatte, die ich aber mit Partys und feiern wegstecken konnte und die mich für ein paar Wochen sogar so kreativ machte, dass ich einen Song darüber schrieb. Langsam stellten sich Depressionen ein und ich fühlte mich, als würde ich fallen und fallen und fallen und als wäre der Boden, auf dem ich irgendwann aufschlagen würde, noch ganz weit weg und irgendwo im Nebel. Es war ein Gefühl, als wäre der Raum in alle Richtungen unendlich und als könnte man nicht spüren, wo man war. Das beängstigte mich unheimlich. Ich realisierte langsam, dass ich alles verloren hatte, was mir wichtig war und was ich mir über Jahre aufgebaut hatte. Eine funktionierende Beziehung, eine Karriere als Musikerin, ein heimeliges Zuhause, liebevolle Menschen rund um mich. Mein bisheriges Leben war weg. Ausgelöscht. Unwiederbringlich verloren. Übrig geblieben war eine Art Restleben, wie man sie von gescheiterten Personen kennt. Leuten, die irgendwann auf der Straße enden und denen man ansieht, dass sie früher einmal ein funktionierendes Leben hatten. Es war ein kläglicher Rest Leben, der da übrig geblieben ist, in dem nichts vorhanden war, was irgendwie Freude bereiten könnte. Ich hab mich so oft Leid gesehen an anderen, die wenigstens einen Beruf hatten, in den sie sich in schwierigen Situationen reinstürzen konnten und der ihnen zumindest ein kleines bisschen Freude, Halt und Sicherheit gab. Oder Menschen, die wenigstens eine Familie und Kinder hatten, mit denen sie gemeinsam durch schwere Zeiten gehen konnten. Ich musste immer wieder weinen, wenn ich in der U-Bahn glückliche Pärchen sah. Ganz besonders schlimm war es, wenn ich ältere Paare beobachtete, wie sie händchenhaltend miteinander redeten, lachten und sich glücklich ansahen. So hätte ich gerne alt werden wollen mit meinem Mann! Es war eine Mischung aus Wut, Verzweiflung und Trauer. Ich hasste diese Pärchen! Warum durften sie glücklich sein und ich nicht? Warum wurde mir mein ganzes Leben geraubt? Warum durfte ich weder privat noch beruflich ein bisschen Glück haben? Was hatte ich denn verbrochen? Ich war angekommen in einer Zeit der tiefen Trauer, hatte Phasen, in denen ich für Wochen kein Licht am Ende des Tunnels sah und in denen ich dem Selbstmord weit näher als dem Weiterleben war.

Es mag absurd klingen, aber die Tatsache, dass man vergessen hatte, die Medikamente meines Mannes abzuholen, war das, was mir Kraft zum Überleben gab. Ich hatte Dosen von Morphium daheim, mit denen ich mich locker 20 Mal hätte umbringen können und ich wusste genau, wie ich sie hätte anwenden müssen. Ich wäre jeden Tag in der Lage gewesen, mein Leben zu beenden und genau das brachte mich dazu, es nie zu tun. „Morgen kannst du dich auch noch umbringen“, war mein Überlebens-Motto. „Hey, du hast diesen Scheißtag überlebt, probier noch einen weiteren,“ hab ich mir oft gedacht.

So ging es über Monate und ich dachte, mein Leben wäre schon zu Ende, weil ich nicht mehr daran glaubte, jemals aus diesem Loch herauszukommen. Dazu kommt, dass mich in dieser Zeit niemand von meiner Familie besuchte, obwohl ich mehrfach darum gebeten hatte und einstige Freunde – auch meine vermeintlich beste Freundin, bei der ich die ersten Tage nach dem Tod meines Mannes verbracht hatte – still und heimlich aus meinem Leben verschwunden waren.

Ich fühlte mich wie der einsamste Mensch auf dieser Welt und ich hatte neben der Tatsache, dass ich nur etwa drei Stunden pro Nacht schlafen konnte, auch noch ständig Panikattacken und sehr starke Angstgedanken. Ein Gedanke (vielleicht auch ein Traum? Ich weiß es nicht, da ich mich nicht aktiv an Träume aus dieser Zeit erinnern kann) war, ich würde aufwachen und meine Hände anschauen und diese Hände wären die Hände einer 100-Jährigen. Immer wieder wiederholte sich dieser Angstgedanke. Immer wieder hatte ich Panik, mein Leben wäre vorbei. Immer wieder und wieder und wieder über Monate. Das zermürbte mich sehr, denn wenn ich in den Spiegel sah, war dort das Gesicht einer 45-Jährigen. Noch dazu einer 45-Jährigen, die verhältnismäßig jung aussah, höchstens wie 40. Eine Frau im besten Alter würde man sagen, aber innerlich war ich uralt wie eine Greisin. Es war eine riesige Diskrepanz zwischen meinem körperlichen und meinem geistigen Alter und ich schaffte es nicht, eine Verbindung herzustellen und hatte ständig große Panik, plötzlich stark zu altern und als alte Frau aufzuwachen. Es nützte auch nichts, dass mir mein Umfeld immer wieder bestätigte, ich wäre noch jung und hätte noch vieles im Leben vor mir. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Es war, als würden sie versuchen, einer Blinden die Farben zu erklären. Ich konnte es einfach nicht sehen.

Ständig stellte ich mir Fragen über den Sinn des Lebens: Geboren werden, lernen, älter werden, krank werden, sterben? Ist das wirklich alles? Wozu tun wir Menschen uns das an? Das kann es doch nicht sein!
Nacht für Nacht für Nacht für Nacht hatte ich nicht nur immer wieder dieselben grausamen Gedanken, sondern verspürte dieselbe Sinnlosigkeit und Leere. Es schien, als wollte es nicht aufhören.

In meinen Tages-Aktivitäten klammerte ich mich an Menschen, die mich ablenkten. Viel Oberflächlichkeit, wenig Tiefgang. Hauptsache, keine Leere und keine negativen Gedanken, die sich drehen wie im Kreis. Ich versuchte, immer wieder meine Gefühle zu ordnen, aber in mir drinnen sah es genauso aus wie draußen: kalt, nass und dunkel. Irgendwie rettete ich mich über den Winter und klammerte mich weiterhin zum Teil an falsche Menschen. Zum Glück war eine neue beste Freundin für mich da und holte mich immer wieder aus meinem Loch. Da sie selbst vom Schicksal sehr gebeutelt wurde, hatte sie ein tiefes Verständnis für meine extremen Gefühlsschwankungen, meinen Zorn und meine Hoffnungslosigkeit der ganzen Welt gegenüber.

Man kann gar nicht glauben, wie lange und tief die Löcher sein können, in die man fällt. Ich war oft tagelang nicht in der Lage, mir etwas zu kochen oder ohne Alkohol auskommen zu können. Ich weiß, ich saß oft Stunden in meiner Küche, rauchte eine Zigarette um die andere und spielte irgendein Spiel auf meinem Handy oder scrollte die Facebook Pinnwand rauf und runter. Ich wollte nur, dass die Zeit vergeht. In der Nacht kamen dafür wieder diese Angstgedanken, dass das Leben plötzlich vorbei wäre. Ich hätte so gerne Hilfe gehabt, aber ich war überhaupt nicht in der Lage, mir Hilfe zu holen. Ab und zu kochte eine Freundin für mich oder ging ein Freund mit mir essen oder holte mich sonst heraus aus dem Loch. Allerdings half das immer nur für sehr kurze Zeit. Zu Hause angekommen spürte ich wieder diese unendliche Einsamkeit. Ich hatte Wut auf meinen Mann. Warum hatte er sich geschlichen? Warum war er gegangen und hatte mich einfach so zurückgelassen? Wie konnte er mir das antun? Und dann kamen wieder die Gedanken, warum er so leiden musste, warum er nicht länger leben durfte und warum ihm ein glückliches langes Leben nicht beschieden war.

Es ist eigenartig, aber Wut scheint ein wichtiger Faktor in der Trauer zu sein, genau wie Selbstmitleid. Ich hatte Wut auf meine Familie, Wut auf meinen Mann, Wut auf die ganze Welt. Es ist ein hilfloses Gefühl, das man versucht zu kanalisieren. Wut. Wut. Wut. Und gar keine Kraft, sie irgendwo loszuwerden. Und dann wieder rauchen und Alkohol trinken und alles wegschieben, bis die Nacht kommt.

Wie sehr hätte ich in dieser Zeit jemanden gebraucht, der sich wirklich um mich kümmert. Angefangen von so Dingen wie selbst zu essen, selbst zu schlafen bis hin zu sich ein bisschen liebevoll zu behandeln und irgendetwas wie Wert oder Selbstwert zu spüren. Ich spürte aber nichts als Traurigkeit, Wut und Selbstmitleid. Vielleicht war das auch gut so und vielleicht darf das auch alles so sein. Dennoch ist es schrecklich. Man hat das Gefühl, in einem dunklen, kalten, feuchten Loch gefangen zu sein und nie wieder herauszukommen.

Meine einsamen Nächte habe ich übrigens in einem Song verarbeitet…