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Kapitel 8: Die Selbsthilfegruppe – Aliens wie ich!

Ein wichtiger Teil meiner Trauer war es, Menschen zu finden, die mich wirklich verstehen. Ich hab bei Freunden gesucht und in der Familie, aber die Wahrheit ist: niemand konnte meinen Schmerz auch nur annähernd verstehen. Niemand konnte begreifen, was ich durchmachte. Niemand kannte das tiefe Loch, in das ich gefallen bin und aus dem ich nicht mehr herauskam.

Was für ein Segen war es daher, über eine Bekannte, die ich vom mobilen Hospiz der Caritas her kannte, zu erfahren, dass es den Young Widow_ers Dinner Club gibt. Ich bin nicht der Typ, der sich in geschlossene, nüchterne Räume setzt und dann auf Kommando über seine Trauer spricht. Ich tu mir schwer damit, wöchentlich in eine Gruppe zu gehen, in der ausschließlich über Trauer gesprochen wird. Wie soll ich denn da wieder in ein normales Leben zurückfinden? Klassische geführte Trauergruppen, von denen es einige gibt, auch für junge Witwen, waren für mich daher keine Option – selbst wenn ich klar sehen konnte, dass es viele Trauernde gibt, die von solchen Gruppen profitieren.

Der Young Widow_ers Dinner Club ist ein Selbsthilfe-Verein, der von acht jungen Witwen gegründet wurde und der herrlich unkompliziert funktioniert. Man trifft sich in der verschiedenen Lokalen, man isst gemeinsam, trinkt gemeinsam und redet über Dinge, die einen gerade bewegen. Das können Trauer sein, Schmerz, Probleme mit der Einsamkeit, Probleme im Alltag etc. Es können aber auch einfach alltägliche Dinge sein, die man erlebt und so passiert es gar nicht so selten, dass wir zusammen sitzen und herzlich lachen. Die Gruppe hat mir ein Selbstverständnis für das normale Leben gegeben, das wir Trauernden ja trotzdem haben. Sie hat mir gezeigt, dass es für jeden und jede einen individuellen  Weg gibt, mit Trauer, Schmerz und Problemen umzugehen.

Vor allem die Trauerälteren, also diejenigen, bei denen der Tod des geliebten Partners schon länger her ist, waren mir in vielem ein gutes Beispiel, wie es weitergehen kann. Dass die Freude irgendwann wieder kommt, dass es in der Zukunft auch möglich ist, wieder eine erfüllende Partnerschaft zu führen und dass irgendwann das Interesse an der Welt zurückkommt. Mit denjenigen, die im Traueralter ungefähr gleich wie ich waren, konnte ich gut über aktuelle Probleme und Gefühle reden und ich habe festgestellt, dass wir ähnliche Dinge erleben und fühlen.

Wir sitzen aber nicht nur an manchmal langen Abenden in Restaurants zusammen und sprechen über dies und das, sondern unsere Gruppengründerinnen sind gut vernetzt mit anderen Trauergruppen und so kommt es auch zu Tagungen und Vorträgen zum Thema Tod und Trauer, an denen diejenigen, die gerne möchten, auch offen über ihre Situation sprechen können und damit ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergeben.

Außerdem machen wir ab und zu gemeinsame Workshops. Workshops, die uns ein Feedback zu unserer Gruppe liefern sollen oder auch Workshops zu bestimmten Trauerthemen, wie etwa den Umgang mit Suizid oder mit langer Krankheit. Diese Workshops sind dann geleitet von erfahrenen Leuten, wie etwa Psychologen oder Trauerspezialisten. Das bietet eine zusätzliche Hilfe an, die natürlich jeder freiwillig besuchen kann oder eben auch nicht.

Einmal sollten wir in einem gemeinsamen Workshop Sätze aufschreiben, die uns zu unserer Selbsthilfegruppe einfallen und es war interessant, dass der Begriff „Aliens unter sich“ hier öfters auftauchte. Aliens? Wirklich? Wie kommen mehrere Trauernde auf die Idee, sich selbst als Aliens zu bezeichnen und zwar ganz ohne ironischen Hintergedanken?

Ich möchte das ganz kurz erklären, denn damit begründet sich ja auch meine Kapitelüberschrift.
 Ja, wir jungen Trauernden sind Aliens in dieser Gesellschaft. Wir stehen mitten im Leben, aber das, was  unsere Gesellschaft von Menschen, die mitten im Leben stehen, erwartet, können wir nicht erfüllen. Unsere Karriere schert uns einen Dreck, Dinge wie Haus bauen oder Kinder kriegen laufen bei uns nur so nebenbei. Wir denken nicht an die Zukunft, denn eine Zukunft existiert für die meisten von uns nicht. Wir wollen auch gar nicht mehr die Welt retten, sondern maximal unseren eigenen Arsch. Unsere Werte haben sich völlig verschoben. Wir passen nicht mehr in diese Gesellschaft und wundern uns höchstens über Leute, denen Karriere und materielle Dinge wichtig sind – ärger noch – oft finden wir solche Leute sogar abstoßend oder zumindest sehr, sehr weit entfernt von uns. Es ist also nicht nur Unverständnis, das uns entgegenschlägt, sondern auch wir verstehen die Welt nicht mehr.

Je mehr ich versucht habe, wieder in die alte Welt hineinzuwachsen, meinem alten Job nachzugehen, meine alten Hobbys wieder aufzugreifen und mich mit meinen alten Freunden zu verbinden, desto mehr bin ich gescheitert. Ich hab mich gefühlt, als würde ich etwas tun, das meinem Innersten so gar nicht entspricht. Ich hab mich gefühlt, als würde ich meine Seele verkaufen. Über die Monate der Selbstreflexion, in die ich gewaltsam geworfen wurde, habe ich verstanden, dass ich nicht mehr leben kann wie davor, dass meine Zeit auf Erden begrenzt ist und dass ich WIRKLICH leben will – und zwar MEIN Leben.

Umso wohler hab ich mich in Anwesenheit der anderen Witwen und Witwer gefühlt. Hier war plötzlich alles normal. Hier konnte ich weinen, wenn mir danach war und lachen, wenn mich etwas erheitert hat, über Pläne und meine gestohlene Zukunft sprechen, die Wut über die Ungerechtigkeit meiner Situation rauslassen und die Verzweiflung, wie es nun nur weitergehen würde. Hier konnte ich ganz ich sein und das diente der Heilung meiner Seele. Und noch etwas Wichtiges: Hier gab es keine Tabus. Keine Wertungen. Ich habe erfahren dürfen, dass Trauer so individuell wie der eigene Fingerabdruck ist. Trauer kann extrovertiert stattfinden oder introvertiert, sie kann innerhalb kurzer Zeit („kurz“ gibt es nicht wirklich, ich spreche hier von ein bis zwei Jahren!) verarbeitet werden, oder auch viele Jahre andauern, sie kann in Phasen ablaufen oder auch nicht. Für mich war einfach wichtig, dass ich mich nicht verstellen musste, ich musste nicht funktionieren, ich musste nicht nach irgendeinem Schema trauern und ich wurde von niemandem verurteilt, wenn ich Dinge tat, die unsere Gesellschaft so gar nicht dem Thema Trauer zuordnen würde, aber dazu später.

Den Young Widow_ers Dinner Club gibt es inzwischen übrigens in mehreren Ländern und mehreren Städten im deutschsprachigen Raum. Ich kann allen jungen Witwen und Witwern nur ans Herz legen, diese Selbsthilfegruppe zu besuchen und sich selbst ein Bild zu machen. Ich weiß auch, dass ich als kreativer Freigeist etwas anders bin als andere und dass es sein kann, dass so eine Gruppe nicht für jeden passend ist. Ich möchte aber betonen, wie sehr diese Gruppe nicht nur mir, sondern auch vielen anderen geholfen hat, zurück ins Leben zu finden und dass ich darüber, und auch darüber, dass ich neue Freundschaften durch die Gruppe gefunden habe, wirklich sehr dankbar bin.

Damit ihr euch etwas vorstellen könnt, haben wir ein Video gedreht – no budget und ausschließlich von jungen Witwen und Witwern gemacht. Ich durfte zu diesem Video zusammen mit der wunderbaren Musikerkollegin und Chellistin Angela Keil die Musik beisteuern.